Leseprobe mit dem Beginn des Romans


I - Rian
„Was stehst du hier so rum? Sieh zu, dass du hineinkommst, wie
all die anderen Jungen auch!“ Mit fuchtelnden Armen ging die
große dunkelhaarige Frau auf das schmächtige Kind zu, das sie mit
aufgerissenen Augen ansah.
„Aber, ich ...“
„Nichts aber!“, unterbrach die Frau mit kräftiger Stimme das Kind,
umfasste dessen Kinn und sah ihm direkt in die Augen. „Du bist nicht dumm. Das kann ich sehen. Aus reichem Hause bist du nicht, wenn ich deine Kleidung so anschaue. Also sei nicht ängstlich und freue dich, dass du in der Akademie aufgenommen wirst. Wenn du fleißig bist und Talent hast, kannst du aus deinem Leben etwas machen. Es könnte die Chance deines Lebens sein. Habe Mut und ergreife sie!“
Mit dem Zipfel ihrer Schürze wischte sie dem Kind etwas Dreck
aus dem Gesicht, gab ihm einen aufmunternden Klaps auf den
Hintern und schob es sanft, aber bestimmt, durch das große schwere
Eichentor.
So betrat Rian die herzogliche Akademie von Honoré, im
Herzogtum Molin, dem militärischen Machtzentrum des Reiches
von Grana.
Einmal im Jahr wurden dreißig nicht adelige Jungen aus dem
ganzen Land aufgenommen, um ein Jahr lang unterrichtet zu werden.
Am Ende des Jahres wurden die besten siebzehn Schüler ausgewählt, um sie zu Schwertkämpfern und Rittern auszubilden.
Dies war der jährliche Aufnahmetag und neunundzwanzig junge
Anwärter waren bereits von der Akademie aufgenommen worden.
Staunend ging Rian neben der Frau her, die sich als Berthá Demise,
Hausvorsteherin der Akademie, vorstellte.
Eilig durchschritten sie steinerne Torbogen, folgten einem langen
Gang, überquerten einen gepflasterten Innenhof, betraten ein großes Gebäude aus roten Backsteinen und erreichten schließlich einen großen Saal, aus dem die aufgeregten Stimmen von Kindern drangen.
Die Neuankömmlinge standen dicht gedrängt beieinander und
tuschelten, während vier Bedienstete Kleidung hereinbrachten, die
sie vor die Kinder hielten, um die Größe abzuschätzen. Jedes Kind
bekam ein blaues Wams und eine braune Hose ausgehändigt. Berthá
schubste Rian sanft in die Reihe. „So, nun beeil` dich mal, Kleiner!
Der Großmeister wird bald hier sein, um die neuen Schüler zu sehen.
Viel Glück!“
Damit drehte sie sich um und verließ den Saal mit raschen Schritten.
Rians Herz raste, aber bevor richtig Panik aufkommen konnte,
bekam das Kind Kleidung mit der Anweisung in die Hand gedrückt,
diese sofort anzuziehen. Dies war kaum geschehen, da hörten sie vor dem Saal Schritte von schweren, mit Eisen beschlagenen Stiefeln, die schnell näher kamen. Noch nie hatte Rian einen derart imposanten und Ehrfurcht einflößenden Ritter so nahe vor sich gesehen.
Dies musste der Großmeister der Akademie, Herzog Raoul de
Molin, von dem Rian schon gehört hatte, persönlich sein.
Er war von großer Statur, mit dunkelblonden, von einigen silbernen
Strähnen durchzogenen Haaren und Bart, einem von der Sonne
gebräunten Gesicht sowie aufmerksam blickenden dunkelblauen
Augen.
Unter seinem prächtig bestickten blauen Wams trug er ein schweres
Kettenhemd, dazu schwarze Lederstiefel und ein Schwert.
Rian wagte kaum zu atmen, als der Ritter sich vor den Kindern
aufbaute und eines nach dem anderen prüfend ansah.
In seiner Begleitung waren zwei weitere Männer in den Saal
getreten; der Ältere von beiden offensichtlich ein Gelehrter, der
Jüngere ebenfalls ein Ritter, mit Rüstung und Schwert.
Sie musterten die Kinder gleichermaßen aufmerksam.
Der Großmeister begann laut zu sprechen und seine durchdringende,
dunkel tönende Stimme unterstrich noch seine Furcht einflößende
Erscheinung: „Ich grüße euch. Ihr werdet ab heute ein Jahr lang in
diesen Mauern leben und lernen. Es wird euch weder an Essen noch
an Kleidung mangeln. Ihr werdet lesen und schreiben sowie den
Umgang mit dem Schwert erlernen. Die Siebzehn unter euch, die wir
nach diesem Jahr für die Geeignetsten halten, das Zeug zum Krieger
zu haben, werden in der Akademie bleiben. Aus ihnen werden wir
die besten Schwertkämpfer und Ritter in ganz Grana machen. Die
anderen werden in den Dreck zurückkehren, aus dem sie heute
gekommen sind. Also nutzt die Zeit gut – ein Jahr ist schnell vorbei!“
Seine letzten Worte hallten bedrohlich durch den Saal.
Einige Kinder hatten sich bei seinen Worten ängstlich an den
Nachbarn gedrängt.
Andere blickten eingeschüchtert zu Boden.
Nur ein einziges Kind, mit großen himmelblauen Augen und
blondem Haar, schaute die drei Männer fast trotzig an: Rian.
Der Gelehrte lächelte.
Der junge Krieger hatte dies bemerkt und folgte seinem Blick, bis
er an Rians Gesicht hängen blieb. Ihre Blicke kreuzten sich.
Als der Großmeister den Dreck erwähnte, schob Rian trotzig das
Kinn nach vorne und hob stolz den Kopf, unverwandt den Krieger
ansehend.
Dieser zog tadelnd die rechte Augenbraue nach oben und schüttelte
dann fast unmerklich den Kopf. Gleich darauf wandte er sich wieder
ab, um den Großmeister hinauszubegleiten.
Nachdem sie den Saal verlassen hatten, ergriff einer der vier
anwesenden Bediensteten das Wort: „Mein Name ist Ulf. Ich werde
euch den Umgang mit Schwertern lehren.“
Höflich wies er der Reihe nach auf die drei anderen Männer. „Das
sind Pater Titus und Pater Gerd, die euch Lesen, Schreiben und
Rechnen beibringen werden. Und das ist Wiegand, der sich um die
sonstigen Belange kümmern wird.“
Ulf war selbst noch recht jung, mittelgroß, kräftig, mit braunen
Haaren und einem freundlichen Gesicht. Er war, wie Rian fand, der
sympathischste der vier.
Die beiden Priester konnten gegensätzlicher nicht sein: Pater Titus
war ein kleines, ausgemergeltes Männchen mit einem schwarzen
Haarkranz, unruhigen Augen und wieselartigem Gehabe. Pater
Gerd jedoch war groß, rund, gemütlich mit einer großen roten
Nase und wirren grauen Locken. Ausbilder Wiegand sah wie eine
große rote Ratte aus mit spitzem Gesicht, langer Nase, tief liegenden
kleinen Augen und strähnigem rotem Haar. Er war Rian auf Anhieb
unsympathisch. Dass er für die „sonstigen Belange“ zuständig sein
sollte, erfüllte die meisten Kinder mit einer düsteren Vorahnung.
Pater Gerd zeigte ihnen ihr Quartier; es handelte sich um ein
Gebäude aus grauem Stein, in dem es insgesamt drei Schlafräume
gab. In jedem Raum standen jeweils zehn Betten mit frischen weißen Laken und Bettzeug. An den staunenden Gesichtern der Kinder konnte Pater Gerd ablesen, wie viele von ihnen vorher noch nie in einem eigenen Bett geschlafen hatten.
Er führte sie schnaufend weiter zu einem Speisesaal, in dem sie
dreimal am Tag ihr Essen einnehmen würden.
Dort standen große, grob gezimmerte hölzerne Bänke und Tische.
An den Wänden hingen einige Kerzenhalter und Fackeln. Alles war
sehr einfach gehalten.
Aber vermutlich immer noch besser als das, was manche dieser
Kinder bisher gewöhnt waren, dachte Pater Gerd.
Nun erschien auch wieder Berthá, die sich tatsächlich als guter Geist
dieses Haushaltes erwies. Sie forderte einige Kinder auf, Speisen aus
der Küche zu holen, wies Diener an, diese zu verteilen, ging durch die Reihen, tadelte für zu schnelles Herunterschlingen und tröstete die ersten Neulinge mit Heimweh.
Berthá wurde schnell zum festen Bezugspunkt in Rians Leben.
Sie hatte stets ein nettes Wort oder einen heimlichen Leckerbissen
für das Kind mit den großen blauen Augen übrig, ohne die anderen
dies merken zu lassen.
So oft es ging, half Rian in der Küche, um ein paar Worte mit Berthá
zu wechseln, die ihrerseits reges Interesse an den Fortschritten ihres
neuen Schützlings zeigte.
Die Unterweisungen erfolgten nach Schlafräumen getrennt, sodass
immer zehn Kinder von einem Ausbilder unterrichtet wurden.
Die Tage waren straff durchorganisiert und ließen den Kindern
wenig Freiraum. Der Tag begann früh. Sie mussten sich waschen
und den Schlafraum in Ordnung bringen. Nach einem kurzen
Morgengebet, auf das Pater Titus bestand, nahmen sie eine Mahlzeit
ein. Anschließend, aufgeteilt in drei Gruppen, erhielten sie ihre
Unterweisungen.
Rian freute sich stets auf den Unterricht bei Ulf, denn dieser war
für die praktische Ausbildung zuständig. Er lehrte sie die ersten
Schritte und Übungen im Umgang mit Übungswaffen aus Holz
sowie körperliche Techniken zur Abwehr von Angriffen. Während
seinen Unterweisungen konnten sie sich austoben und er vermittelte
ihnen sein Wissen eher spielerisch.
Pater Titus brachte ihnen das Lesen und Schreiben bei, er war
sehr streng und bemerkte jeden Fehler sofort. Lob gehörte nicht zu
seinem Unterricht, dafür umso mehr Tadel – und davon reichlich.
Die Mehrheit der Kinder fürchtete ihn. Rian lernte eifrig und schnell,
was Titus honorierte, indem er das Kind weniger streng behandelte.
Der Unterricht von Pater Gerd war interessant und vielseitig. Durch
seine herzliche und gemütliche Art im Umgang mit den Schülern
war er bei ihnen sehr beliebt. Oft erzählte er stundenlang schöne
Geschichten, die von Rittern und ihren Heldentaten handelten.
Außerdem brachte er ihnen das Rechnen bei. Da er im Gegensatz
zu Pater Titus eher praktisch veranlagt war, untermauerte er seinen
Unterricht schon mal mit anschaulichen Beispielen; dann legte er
zum Beispiel einen Käselaib vor sich auf das Pult und schnitt ihn in
kleine Stücke, um ihnen anschließend die Käsehappen vorzuzählen,
die er wiederum durch Aufessen abzog, bis er am Ende keinen Käse
mehr übrig hatte. Zwar variierte er die Anzahl der Stücke sowie der
essbaren Objekte, aber seltsamerweise war das Ergebnis am Ende der Stunden immer dasselbe.
Wiegands Unterricht bestand darin, den Kindern gewisse
Umgangsformen beizubringen sowie sie zu diversen Arbeiten
einzuteilen, was von Küchen und Böden schrubben bis zum
Ausmisten der Pferdeställe reichte. Dabei behielt er sie stets im Auge
wie ein Aufseher, weniger wie ein Ausbilder. Fehler, oder ungehöriges Verhalten, wie er es nannte, bestrafte er sofort und hart. Niemand mochte Wiegand, doch ihn schien das nicht zu stören. Im Gegenteil, er erweckte eher den Eindruck, als würde er zu der Sorte Mensch gehören, die die Abneigung anderer brauchte wie die Luft zum Atmen. Rian verachtete ihn und schaffte es auch nicht immer, diese Abneigung zu verbergen, wurde dafür auch von Wiegand schikaniert, so oft es dem unbeliebten Ausbilder möglich war.
Da Rian aber ein guter Schüler war, versuchten sowohl Ulf als auch
die beiden Priester die Schikanen des Wiegand etwas zu mildern,
indem sie das Kind für Aufgaben einteilten, bevor Wiegand dies tun
konnte, der in der Hierarchie unter ihnen stand.
Die Gemeinschaft innerhalb Rians Gruppe war recht gut, aber
unter den Kindern waren doch einige, die den hohen Anforderungen
der Unterweisungen auf Dauer nicht gewachsen waren. Ein Junge
aus dem Herzogtum Virsk, der Sohn eines Jägers, war einfach nicht
in der Lage, die Buchstaben auch nur ansatzweise aufs Papier zu
bringen. Alle Versuche seiner Mitstreiter, ihm zu helfen, schlugen
letztlich fehl. Pater Titus veranlasste daher bereits nach vier Monaten, dass der Junge zu seinem Vater zurückgeschickt wurde. Ein weiterer Junge musste nach fünf Monaten gehen, weil er einfach zu krank und schwächlich war, um im Schwertkampf ausgebildet zu werden.
Nach etwa einem halben Jahr erschien immer häufiger der
Gelehrte, der bei der Begrüßung durch den Großmeister zugegen
gewesen war. Pater Gerd stellte ihn als Meister Janus vor. Er sagte nie ein Wort, sondern saß lediglich im Unterricht der beiden Priester,
was Pater Titus völlig ignorierte, Pater Gerd hingegen zu schlimmen
Schweißausbrüchen verhalf. Rian fühlte sich anfangs von ihm
beobachtet, empfand das aber irgendwann nicht mehr als störend
und gewöhnte sich schließlich daran.
Als der Winter hereingebrochen war, fanden Ulfs Waffenübungen
häufig in der großen Eingangshalle statt. Sie bot genügend Platz und
verhinderte, dass der kalte Eisregen die Kleidung durchnässte.
Während einer dieser Übungen kam eine kleine Gruppe Ritter
durch die Eingangshalle. Darunter war auch der jüngere Krieger, der
Rian am ersten Tag mit seinem Blick getadelt hatte. Sie schienen lange unterwegs gewesen zu sein. Ihre Kleidung war voller Schlamm und völlig vom Regen aufgeweicht. Während seine Begleiter weitergingen, blieb der Ritter stehen. Ulf lief auf ihn zu, um ihn zu begrüßen: „Seid gegrüßt, Hauptmann – wart ihr erfolgreich?“
Der Mann erwiderte den Gruß: „Ja, waren wir.“ Nach einem kurzen
Blick in die Halle fragte er: „Wie geht es hier voran? Wie ich sehe, übt ihr hier im Trockenen.“
Ulf antwortete entschuldigend: „Nun ja, den Kindern fallen bei der
Kälte nach ein paar Minuten die Holzschwerter aus der Hand, und
da dachte ich ...“
Der Ritter klopfte ihm auf die Schulter: „Ist schon in Ordnung, Ulf.
Sie sollten nur wissen, dass ein zukünftiger Ritter bei jedem Wetter
kämpfen muss. Diejenigen, die im Frühjahr noch hier sind, werden
das lernen müssen.“
Sein Blick streifte durch die Halle auf der Suche nach einem
bestimmten Gesicht, aber Rian wich diesem aus und schaute starr
auf den Fußboden vor sich, wohl wissend, wem die Suche galt.
Mit einem leisen Lächeln auf dem sonst strengen Gesicht
verabschiedete sich der Krieger von Ulf und verließ die Halle. Rian
sah ihm neugierig nach. Er wirkte nicht ganz so Furcht einflößend
wie der Großmeister, aber dennoch verfügte er über eine ähnliche
Ausstrahlung. Die anderen Ritter begegneten ihm trotz seines
jungen Alters mit Achtung und Respekt. Der Mann schien ungefähr
so alt wie Ulf zu sein, groß gewachsen, schlank, aber muskulös, seine Augen dunkelblau und wachsam, mit dunkelbraunem Haar, das er wie die meisten Ritter mittellang und nur mit Bändern aus Leder
zusammengebunden trug. Obwohl er erschöpft zu sein schien, hatte
er den geschmeidigen Gang einer Raubkatze.
„Junge!“
Ulfs Stimme unterbrach Rians Gedanken. „Schläfst du?“, tadelte er.
„Mach weiter mit den Übungen.“ Er stellte sich neben Rian und Falk,
den Trainingspartner von Rian, und gab strenge Anweisungen. Nach
ein paar Minuten lobte er die Kinder: „Das war sehr gut. Ihr könnt
eine kleine Pause machen.“
Rian stützte sich auf das Holzschwert. „Ulf, darf ich Euch eine
Frage stellen?“
„Gehe ich recht in der Annahme, dass du wissen willst, wer der
Mann ist, mit dem ich eben gesprochen habe?“
Rian nickte.
„Sein Name lautet Toran de Brethéne und er ist vermutlich der
beste Kämpfer, den die Akademie je hervorgebracht hat“, erläuterte
Ulf. „Außerdem ist er Hauptmann der Akademiegarde. Wer im
Frühling noch hier ist, wird ihn dann öfter sehen, denn er schaut sich
die Fortschritte der Anwärter immer wieder mal an.“ Schnell fügte er
hinzu: „Die meisten Anwärter haben Angst vor ihm.“
„Ich nicht!“, platzte Rian heraus und war gleichzeitig überrascht,
weil es die Wahrheit war.


Ende der Leseprobe